Luo Mingjun – aktuelle Werke (Galerie Gisèle Linder)

21-04-2024    Views  43

Zarte Zweige und einzelne Blätter schweben hell in der dichten, warmen Schwärze einer Kohlezeichnung. Sie sind sehr präzise wiedergegeben, doch herausgelöst aus jedem realen Zusammenhang. Wie einzelne Bilder einer langen Reise, die einem klar vor Augen stehen, wenn man an sie denkt, und die man doch nie mehr am richtigen Ort in das grosse Puzzle des Lebens einfügen könnte. Weisst du noch, diese Bäume? Dieser betörende Garten? Aber: Wo war das noch?


Luo Mingjun umkreist in ihrer Arbeit die Flüchtigkeit des Erinnerns. Mit technischer Brillanz und grosser künstlerischer Sensiblität spürt sie den Bildern nach, die wir aus dem Leben in uns aufnehmen, und aus denen wir denkend unser Leben formen. Bekannt geworden ist sie mit Gemälden, deren grauer Farbauftrag so zart wirkt, als könne er jeden Moment in der unbehandelten Leinwand verschwinden. In ihren jüngsten Bildern arbeitet Luo Mingjun mit dem satten Schwarz von Kohle, aber auch mit etwas, was lange aus ihrer Arbeit verschwunden war: Farbe.


Ein kleiner Magnolienzweig zum Beispiel, eine Knospe, kurz vor dem Erblühen, vor einem wässerig-blauen, ungefähren Hintergrund. Angeregt wurde Luo Mingjun durch eine Magnolie vor dem Atelierfenster: Ein Zweig, aus dem Leben in die Kunst hineingefallen. Auf dem Gemälde erscheint der Zweig so detailgetreu wie fotografiert, und dennoch entrückt. Er bringt einen kleinen Schatten mit, der unter ihm liegt. Und doch wirkt er etwas verloren in dem vagen Blau, das ihn umgibt. Wenn Luo Mingjun Pflanzen malt, dann scheinen sie zu schweben. Sie sind nicht verwurzelt. Wie die Künstlerin selbst, die in China geboren wurde, seit vielen Jahren in der Schweiz lebt und immer ein wenig zwischen den Welten steht.


Luo Mingjun hat den Blick einer Reisenden. Es ist ein Blick, der vieles sieht, das Kleine, das Unspektakuläre, das, was unsichtbar bleibt für den gewohnheitstrüben Blick der Einheimischen. Luo Mingjuns Blick ist ein aufmerksamer Blick, der auch das eigene Innere durchleuchtet. Vor allem dann, wenn sie, die Zwischenweltlerin, sich wirklich auf Reisen begibt.


In der japanischen Präfektur Okinawa entdeckte Luo Mingjun üppige Gärten und eine Grotte mit seltsam geformten Steinen unbestimmter Bedeutung. Die Künstlerin reagierte darauf mit  flächigen Abstraktionen, in denen sie die Farben der Vegetation und die Formen der rätselhaften Steine aufgreift. In Indien entdeckte sie in Stein gehauene Heiligtümer, die sie in einer Serie von Zeichnungen festhielt. Wer diese Kunstwerke geschaffen hat, ist unbekannt. Die Namen der Bildhauer sind im Fluss der Zeit versunken. Wie flüchtig ist ein Name, ein Menschenleben im Vergleich zu einer Steinskulptur? Luo Mingjun illustriert diesen Gedanken, indem sie ihre eigene Signatur unter den Zeichnungen mit übermalt, in Tönen, die an die indische Farbenfülle erinnern.


Schliesslich setzt die Reisende, die Beobachtende sich selbst ins Bild. Zweimal hat Luo Mingjun sich gemalt, bei Tag und bei Nacht, in zarten und dunklen Blautönen. Die grossformatigen Gemälde zeigen die Künstlerin jeweils in Rückenansicht. Sie geht vor den Betrachtenden her, vielleicht auch von ihnen davon, ins Helle oder in die Nacht hinein, ins Weite, ins Offene, zu neuen Horizonten, und sieht, was wir noch nicht sehen.


Alice Henkes, Juli 2023


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