Verwehter Staub – in blasser Erinnerung an die gegenwärtige Vergangenheit Dolores Denaro

19-03-2019    Views  167

Als ob nur feinste Staubpartikel des grauen Grafits auf dem weissen Papier zurückgeblieben wären, derart subtil bearbeitet Luo Mingjun in ihren neusten Zeichnungen das Papier mit dem Bleistift. Weder Vorzeichnungen, Umrisslinien noch Einkerbungen oder Spuren der Bleistiftspitze sind vorhanden. Die Struktur des Zeichnungspapiers ist unversehrt und Träger leichtester Materie. An gewissen Orten haben sich die Staubkörner angesammelt und bilden ein Motiv, das beim nächsten Luftzug wieder zu zerstreuen droht. Staub ist wie Rauch, verweht beim leisesten Windhauch und wandert weiter. An einigen Stellen gar ist der Übergang von der leeren Fläche zur Materie kaum sichtbar.


Zwischentitel

尘 Staub, so lautet der von Luo Mingjun für ihre erste Museumseinzelausstellung und der vorliegenden Publikation gewählte Titel, ist ein stark von der chinesischen Kultur geprägter Begriff und weist direkt auf die Herkunft der Künstlerin hin. In der christlichen Kultur wird Staub primär mit der Erde – Staub ist es woher wir kommen, Staub ist es wohin wir gehen – in Verbindung gebracht. Ansonsten ist das Substantiv im Abendland primär eine Sammelbezeichnung ohne symbolischen Gehalt für „feinste feste Teilchen, die in Gassen, insbesondere in der Luft aufgewirbelt lange Zeit schweben können. […] Eine allgegenwärtige Form des Staubes, der aus organischem und anorganischem Material bestehen kann, ist Hausstaub.“1 Inzwischen ist in Zusammenhang mit der Umweltverschmutzung auch der Feinstaub im allgemeinen Sprachgebrauch häufig, der sich jedoch ebenfalls auf die Beschreibung der Materie konzentriert.

Ganz anders ist der Ausdruck in China konnotiert. Nebst der profanen Bedeutung hat Staub in der chinesischen Sprache einen vielschichtigen, tiefgründigen Bedeutungsgehalt. So ist ein Staubkorn, nach der Ideologie des Buddhismus zufolge, Sinnbild für das einzelne Menschenleben auf Erden. Oder nach der kommunistischen Auffassung des Gründers der Volksrepublik Chinas, Mao Tse-tung, ist es an uns selbst, jeden Tag den Staub aus dem Hirn zu wischen, da sich dieser sonst nicht von selbst entferne. Und nach der als authentisch chinesisch angesehenen Religion, dem Taoismus zufolge, erreichen wir nur dann die höchste Reinheit, wenn wir frei von jeglichem Staub sind. „Roter Staub“ wiederum bedeutet im Chinesischen das alltägliche Leben per se. Die Interpretation von Luos Werk

durch den Leiter der Abteilung für Kunsttheorie an der Kunstakademie in Peking, Zou Yuejins, ist daher besonders interessant. Sie zeigt die Sicht vom Blickwinkel der chinesischen Kultur aus und gibt Einblick in die komplexe Bedeutung des Begriffs.2 Seine Ausführungen zeigen auch, dass das chinesische Zeichen 尘 im Prinzip nicht mit einem Wort in unsere Sprache übersetzt werden kann, will man seiner Vielschichtigkeit gerecht werden.

Von zwei unterschiedlichen Kulturen – Schweiz und China – geprägt, hat für Luo Mingjun der Begriff ohne Zweifel sowohl weltliche, religiöse als auch philosophische Bedeutung. Insgesamt ist Staub für die Künstlerin ein Sinnbild für die Vergangenheit. Jeder gelebte Zeitpunkt ist im nächsten Moment bereits Geschichte. Was übrig bleibt, sind Spuren des Vergangenen.


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Die im letzten Jahr entstandenen Zeichnungen erwecken den Eindruck, als ob es sich um vergrösserte Schwarz-Weiss-Fotografien handelte, die fasst vollständig verblasst sind. In sorgfältiger konzentrierter Arbeit setzt die Künstlerin einen kurzen Strich neben den anderen, füllt hier dunkle Stellen, lässt dort helle Flächen aus. Die schier unendliche Wiederholung der Handbewegung hat indes keinen meditativen Charakter, wie vielleicht zunächst vermutet, sondern widerspiegelt die seismographische Aufzeichnung eines Hauches der Erinnerung: „Strich für Strich die Erinnerung leben“, so beschreibt die Künstlerin die zeitaufwändige Technik.3 Die Werktitel wie Poussière et le temps (Staub und Zeit) verraten, die Bildmotive handeln vom übrig gebliebenen Staub vergangener Zeit.

Als Grundlage dienen ihr Fotografien aus der Zeit, als die Künstlerin noch in China lebte, bevor sie 1987 in die Schweiz umzog. Aufnahmen ihrer Eltern am Tisch sitzend, die Mutter strickend, von Mingjun zusammen mit ihrer Schwester, von ganzen Schulklassen, Gruppen im Freien sowie Freunden und unterschiedlichen Örtlichkeiten wie ihr einstiger Schulweg sind Bildgegenstand. Von Werk zu Werk wechselt der gewählte Ausschnitt, mal sind es Fernansichten, mal Nahaufnahmen. Bis auf eine Ausnahme sind die Augen jeweils kaum sichtbar. Der Blick der Protagonisten löst sich in der weissen Leere fast gänzlich auf, er ist in der Vergangenheit verblasst wie auch viele Details. Das Gefühl beim Betrachter genau so, wie wenn man vergeblich versucht, sich an Details eines lange nicht mehr gesehenen

und doch vertrauten Gesichtes zu erinnern. Die Erlebnisse und Personen sind nur ein leiser Schatten der Erinnerung, behutsam eingefangen auf dem Papier.

Entscheidend für diese Ästhetik der Blässe ist Luos Übertragungsverfahren des Motivs von der Bildvorlage auf das Zeichenpapier. Luo Mingjun kopiert nicht, sondern interpretiert. Zunächst zeichnet sie die Fotografie, die manchmal gerade nur fünf Zentimeter misst, freihändig auf ein A4-Papier ab. Bei diesem Vorgang lässt sie bereits die Details sowie einzelne Partien weg. Anschliessend projiziert sie die gescannte Skizze auf den definitiven Bildgrund. Nun fixiert sie lediglich einzelne Referenzpunkte des Rohentwurfes, wobei weitere Details ausgelassen werden. Erst jetzt, ohne die Vorlage, zeichnet sie auf das mit wenigen Punkten vorbereitete weisse Papier die Bleistiftzeichnung, wobei die eigene Erinnerung und die Gedanken an das Vergangene massgeblich sind. Dadurch ist die Künstlerin in der Wahl von Licht- und Schattenstellen sowie im Detaillierungsgrad frei; eine Interpretation der gewesenen Wirklichkeit, für die die Bildvorlage nur als Ausgangspunkt diente und nun sekundär ist. Der mit der verlorenen Vergangenheit verbundene stille Schmerz ist gerade zu spürbar: Der Staub, das schmerzliche Überbleibsel einer Erinnerung, die immer mehr verblasst.4


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Schmerz so heisst auch die den Zeichnungen vorausgehende, während einem längeren Aufenthalt 2006 in Shanghai entstandene Textilarbeit der Künstlerin. Über Tage bestickte sie einen fast hundert Meter langen weissen dünnen Stoff mit rotem Faden. Während sie dazu einen chinesischen Radiosender lauschte, wurden die Erinnerungen an den Alltag des Lebens in China wieder in ihr wach. Diese hielt sie in französischen und chinesischen Worten fest; die spontan gewählten Begriffe und Zeichnungen ein Spiegel der Gedanken um das alltägliche Leben im Heimatland. Luo Mingjun imitiert mit diesem Akt einen Brauch, wie er in China von einer Frau vor der Hochzeit vollzogen wird. Einsam stickt die Braut hoffnungsvoll all ihre Zukunftswünsche in die Ausstattung ihres künftigen Heimes, wobei der Schmerz des Alleinseins, das langwierige Zeitverbringen sowie die mit der Zukunft verbundenen Ängste unweigerlich mit hinein projiziert werden. Das Gefühl, das sie bei der Arbeit hatte, beschreibt die Künstlerin mit folgenden Worten: „Es war, wie wenn ich weinen möchte, jedoch nicht kann“5. Mit der gewählten Länge – 999 Zentimeter– der Stoffbahn wird die Allegorie auf die Unendlichkeit dieses anhaltenden Schmerzzustandes noch verstärkt. Der Sinn des Objektes ist indes unklar. Es ist weder ein Vorhang,

noch eine Tisch- oder Bettdecke. Das leichte gitterartige Material erinnert zum einen an eine riesige Gazebinde und zum anderen an ein Mückennetz. Können damit die Schmerzen geheilt und die Wunden verbunden oder aber die Erinnerungen vor weiteren Einstichen geschützt werden?

Mit der Neuinszenierung der Arbeit Schmerz in der nahezu dreissig Meter langen Vitrine verarbeitet Luo nochmals die Thematik ihrer früheren Werkgruppe der Small Things (Kleine Dinge), in denen sie stereotype Utensilien der Frau wie Lippenstift, Nagelschere, Schwingbesen, Tassen, Gläser und Damentasche mit Tusche zu Papier brachte. Die Stoffarbeit beherbergt nun persönliche Objekte der Künstlerin, wie Tuschepinsel, Namensstempel, Visitenkarten, eigene ältere Arbeiten, Steckkissen und den von Hand verfassten Lebenslauf der Künstlerin. Als ob sie versuchen würde, die dazwischen schwebenden Erinnerungen festzuhalten, ist der ganze Stoff mit roten Stecknadeln versehen, die dem Stoff jedoch wiederum neue Verletzungen zufügen. Oder sind sie im weitesten Sinne gar im Geiste Maos zu verstehen? Wo man angenagelt ist, bleibt man für immer stecken?


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Thematisch bewegt sich die Suche der Künstlerin bereits seit langem stets um die Frage nach der Identität.6 Mit den neuen figürlichen Arbeiten der Zeichnungen weitet sie diese erstmals aus, auf ihre Erinnerungen an ihr Umfeld aus der Vergangenheit sowie der damit verbundenen Menschen. Was sich früher in abstrakten Formen, Alltagsgegenständen und verwischter Tusche noch versteckt hielt, kommt nun direkt zum Ausdruck. Luo Mingjun setzt sich mit ihrem Lebensweg und ihrem künstlerischen Werdegang sowie der damit verbunden Zeit auseinander.

Mit der Präzisierung der Thematik findet Luo Mingjun auch erstmals zurück zu ihrem ursprünglichen Medium, der vertrauten Malerei. Diese hatte sie nach nur wenigen Jahren in der Schweiz für längere Zeit zurückgestellt, als sie durch die Übersiedlung und die damit verbundene Entwurzelung eine schwierige „Zeit der Orientierungslosigkeit und der inneren Prüfung“7 durchlebte. Mit der Ankunft in der Schweiz verlor sie auf einen Schlag einen viel begehrten Arbeitsplatz – sie unterrichtete als eine der jüngsten Dozentinnen an der ***Schule*** –, ihre Künstlerkolleginnen und -kollegen, ihre chinesische Staatsbürgerschaft und damit ihre Identität. Um ihre Eltern zu besuchen, musste sie ab sofort ein Visum für die Einreise in ihr Heimatland beantragen. Interessierte sie sich vorher für die Geschichte, Literatur und Philosophie des Westens, so begann sie sich in der Ferne für die chinesische zu

interessieren und wandte sich nach einem kompletten künstlerischen Unterbruch zunächst der Kalligraphie und der Tuschemalerei zu. In Arbeiten wie der Abschrift des Daodejing von Laozi 1992 beschäftigte sie sich mit dem ihr Hierzulande fehlenden philosophischen Gedankengut des Taoismus. Nicht von ungefähr wählte sie dazu den einflussreichsten, Laotse zugeschriebenen, daoistischen Text mit etwa fünftausend altchinesischen Schriftzeigen. Werktitel wie Abbruch-Serie, Break Up, Auflösung und Sprachlos sind weitere Zeugen der anhaltenden Identitätssuche. Ihr Weg führte sie weiter über die Abstraktion – die auch als Orientierungslosigkeit der Künstlerin gedeutet werden kann – und mit den Small Things schliesslich zum Gegenständlichen und mit den Zeichnungen nun zu den Figurenbildern zurück. Letztere wiederum ermöglichten ihr den lange ersehnten Rückweg zur Malerei.


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Während sie bei den Arbeiten auf Papier mit dem Bleistift die Schatten und dunklen Flächen zeichnet – die leer belassenen weissen Flächen entsprechen den beleuchteten Stellen –, modelliert sie in den Gemälden mit dem Pinsel das Gegenteil. Mit weisser Ölfarbe malt sie die Lichtflächen auf die Naturbelassene rohe Leinwand. Gleich geblieben ist die Quelle der Motive, die eigene Fotosammlung, und die Technik der Übertragung von der Vorlage auf den Bildgrund, um dieselbe Interpretationsfreiheit der Erinnerung zu geniessen wie bei den Zeichnungen. Anhand der wenigen Orientierungspunkte, ohne eine konkrete Vorzeichnung, arbeitet sie einzig mit dünnem flüssigem Weiss direkt auf das Leinen. Ein jedes Gemälde fasziniert durch die virtuose Maltechnik, die von der Künstlerin absolute Konzentration verlangt und die keinen Pinselstrich erkennen lässt. Bildgrund und Bildträger scheinen gleichwertig nebeneinander und vereint zu sein, das Bild ein Farbhauch aus feinsten Weissabstufungen auf dem Tuch. Ohne Zweifel kommen der Künstlerin die Kenntnisse der chinesischen Tuschemalerei bei der Suche nach den allerfeinsten Nuancen und Grenzen der Farbe zugute. Das subtile Nebeneinander von bemalten und ausgelassenen Flächen sowie ihre teils kaum sichtbaren Übergänge verleihen dem Motiv seine Spannung. Es ist dieselbe Ästhetik der Blässe der Zeichnungen, der ihre jüngsten Gemälde verpflichtet sind. Und in eben dieser Blässe und in dem mit der Erinnerung an die Vergangenheit verbundene spürbare Schmerz unterscheidet sich der künstlerische Ansatz von Luo Mingjun von vielen zeitgenössischen chinesischen Kunstschaffenden, die sich wie beispielsweise Li Lumin vielmehr mit der Thematik der Unschärfe eines Gerhard Richters beschäftigen.

Mit der lasierenden Maltechnik in Verbindung mit dem gewählten Bildgegenstand hat die Künstlerin zu sich selbst gefunden, verbindet die chinesische Tuschetechnik mit der konträren Nichtfarbe Weiss und reduziert den Kontrast von Licht und Schatten auf ein Minimum. Hell und Dunkel, Yin und Yang nähern sich an. Die Künstlerin hat auf der Leinwand ihr Tao (chinesisch für Weg oder Methode) gefunden: die Vereinigung der Gegensätze Sein und Nicht-Sein.


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Der Höhepunkt der aktuellen Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben, die weit über das Private hinaus geht, ist die monumentale Installation Poussière Rouge (Roter Staub), die Luo Mingjun für den grössten Saal des CentrePasquArt in Biel realisiert hat. Gegen tausend Bilder hat sie aus ihren Fotoschubladen herausgesucht, jedes einzeln mit einem einheitlichen roten Schleier übertüncht und in ein gewaltiges dichtes Fotoalbum vergrössert, das sich von Boden bis Decke lückenlos über alle vier Ausstellungswände des 365m2 grossen Oblichtsaales erstreckt. Der eintretende Besucher wird völlig vom roten Staub der abgebildeten Menschen, Landschaften, Städten und Situationen umgeben und gefangen genommen. Zeit und Ort völlig durcheinander gewirbelt, reihen sich die Fotos assoziativ aneinander. Die Motivwahl beschränkt sich diesmal nicht auf das Leben im asiatischen Staat, sondern schliesst das aktuelle Umfeld in der Schweiz mit ein. Zu sehen sind u.a. Mingjun als Mädchen, Ausstellungsansichten, die eigenen Kinder, die Mutter, eine chinesische Landschaft, der Ehemann sowie dessen Ahnen, unterschiedlichste Strassen, die Schwester der Künstlerin, Freunde von hier und dort, Ausstellungsansichten, Mingjun heute, Werke anderer Künstler, die sie beeindruckt haben, Menschengruppen, Mingjun zusammen mit Kunstschaffenden und weitere Erinnerungsfotos unterschiedlichster Art. Dazwischen eingestreut sind Kopien aus ihrem Französisch-Chinesischen Wörterbuch, das Luo Mingjun seit sie in der Schweiz lebt, stets begleitet. Die ausgewählten Begriffe sind Schlüsselwörter, die für das Leben zwischen zwei völlig unterschiedlichen Kulturen eminent sind. Identität, Stil, Meinung, Nationalismus, Meinung, Moral, Malerei und Kunst sind Wörter, mit denen sich die Künstlerin wiederholt auseinandergesetzt hat, um die hiesige Kultur, Geschichte und Kunst richtig zu verstehen und einen gemeinsamen Nenner ihrer beiden Identitäten ausfindig zu machen.

Zu Weiss und Schwarz und den dazwischen liegenden Grauabstufungen, gesellt sich in dieser Arbeit mit Rot eine dritte Farbe hinzu, welche die Künstlerin bereits in einer früheren Arbeit, der Bodeninstallation Go and Back 1996, verwendet hat und die wiederum mit unterschiedlichem

Bedeutungsgehalt beladen ist. Zunächst erinnert das kräftige Rot auf Stoff ohne Zweifel an die Flagge der Volksrepublik China, doch ganz ohne die fünf Sterne, so wie sie mehrfach in einer langen Reihe auf dem Roten Platz in Peking steht und im Wind flattert. Die Farbe des kommunistischen Gedankengutes pur. Die bedeckten Wände erinnern in diesem Zusammenhang an die Kampagne der Grossen Proletarischen Kulturrevolution, mit der Mao in den sechziger und siebziger Jahren versuchte, seine Macht gegenüber den Gegnern in der kommunistischen Partei zu behaupten und das Land wieder nach seinen persönlichen Vorstellungen umzuformen. Die Mauern der Städte waren mit politischen Propagandaplakaten völlig tapeziert. Oder referenziert das völlige Zudecken der Wandflächen der Installation die ärmlichen Verhältnisse auf dem Land, wo aus Mangel an Tapeten und Farbe die Wände zum Schutz mit Zeitungsseiten beklebt sind und die Luo Mingjun besonders anlässlich des Langen Marsches der Roten Armee zusammen mit der Kunstgruppe „O“ kennen lernte?

Doch Rot hat nicht nur politischen Gehalt, sondern steht auch für die Liebe und kann für das Blut stehen, welches wiederum das pulsierende Leben versinnbildlicht und bejaht. Und in der chinesischen Gesellschaft steht die Farbe für einen wichtigen Glücksmoment im Leben, zumal die Frau in traditionellen Kreisen in Rot heiratet. Auch in buddhistischen Tempeln ist Rot die vorherrschende Farbe und vermittelt Ruhe und Konzentration.

Wie auch immer, Poussière Rouge (Roter Staub) beutet schlussendlich schlicht das alltägliche Leben. Und trotz der starken Leuchtkraft der Farbe und all ihrer Assoziationen erreicht die Künstlerin in der Arbeit denselben Effekt der Blässe wie in den Zeichnungen und Gemälden: Die Erinnerungen drohen, sich im roten Farbenmeer aufzulösen und zu verschwinden. Einige Motive sind bereits nicht mehr sichtbar.

Mitten im Raum, auf dem Grund in einer Art Ziehbrunnen befindet sich das Video Identity (Identität) von 2007. Auf dem Boden sitzend versucht hier die Künstlerin – durch die Brunnenmauern von der Umwelt beschützt und abgeschottet zugleich – auf der anstrengenden Suche nach dem eigenen Standpunkt, ihre zwei Identitäten sowie Vergangenheit und Gegenwart zu vereinen, indem sie ihren abgelaufenen chinesischen und ihren gültigen schweizerischen Personalausweis wie die zwei Hälften eines zerschnittenen Apfels zusammennäht. Einzig die roten Stromkabel ragen aus dem Brunnen in den Raum hinaus und verbinden sie mit der alltäglichen Welt. Der rote Faden, der ihr den Weg weist?


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Der Ansatz dieser neuen Werke Luo Mingjunds, die den Start einer neuen Schaffensphase der Künstlerin markieren, geht indes über das Persönliche hinaus: Die Problematik der Identität und die damit verbundene Frage nach der Menschlichkeit ist ein weltweites Thema. Die Völker durchmischen sich nicht nur wegen Kriegsbedingter Migrationen immer mehr, sondern auch aufgrund der zunehmenden Globalisierung. Stellvertretend dafür steht auch, dass die Künstlerin eigens für den Druck der roten Stoffbahnen nach Shanghai geflogen ist.