Luo Mingjuns „roter Staub” Zou Yuejin

19-03-2019    Views  215

Im chinesischen Kontext ist „Roter Staub“ ein komplexer Begriff. In frühen Zeiten wurde damit das geschäftige Treiben einer Stadt beschrieben, wie zum Beispiel im Gedicht der westlichen Hauptstadt des Literaten und Historikers Ban Gu (32 – 92 n.Chr.) der Han-Zeit: „Die Mauern der Stadt sind übervoll, hunderte von Gebäuden drängen sich hier. Roter Staub wirbelt überall auf und steigt mit Rauch vermengt zum Himmel.“ Später wurde der Begriff im erweiterten Sinne benutzt, um die profane, irdische Menschenwelt im Gegensatz zur überirdischen Welt der Geister und Götter zu bezeichnen. Wohl aus diesem Grund wurde schliesslich in buddhistischen Schriften mit „Roter Staub“ die menschliche Lebenswelt bezeichnet. Im Laufe der Zeit kamen noch konkretere Interpretationen dazu: Die Farbe Rot wurde assoziiert mit den Versuchungen oder Bedürfnissen des Lebens, und zwar in dem Sinne, dass sich der Mensch gerade dadurch, dass er seine Bedürfnisse zu befriedigen sucht, Belastungen zuzieht. In diesem Kontext steht „Staub“ auch für die Mühen des Lebens. Luo Mingjuns Lebensweg und künstlerischen Werdegang anhand des Begriffs „Roter Staub“ zu interpretieren, erweist sich in der Tat als effiziente Methode.

Luo Mingjun begann sich 1976 der Malerei zu widmen und bestand 1979 die Prüfung im Fachbereich Kunst der Universität Hunan. Dank ihrer hervorragenden Leistungen während des Studiums erhielt sie rasch nach ihrem Abschluss eine Stelle als Dozentin an derselben Hochschule, wo sie bis zu ihrer Ausreise im Jahr 1987 unterrichtete. Die Jahre zwischen 1979 und 1987 sind im künstlerischen Werdegang von Luo Mingjun von besonderer Bedeutung, denn in dieser Zeitspanne fand in China der Wandel von der Ära Mao Zedongs zur Reformbewegung unter Deng Xiaoping statt. Es war eine Zeit der geistigen Befreiung, in der vor allem die Öffnung gegenüber dem Westen dazu führte, dass die Kunst sich von ihrer politischen Dienstleistungsfunktion löste und vielfältige Positionen und Formen anzunehmen begann. Ein Schlüsselwerk in Luo Mingjuns künstlerischem Werdegang ist das Bild Klarer Herbst, das in den Jahren 1983/84 entstanden ist und in die 6. Nationale Kunstausstellung von 1984 aufgenommen wurde. In diesem Werk zeichnen sich bereits zwei Tendenzen ab, die für spätere Arbeiten der Künstlerin bestimmend sein sollten, nämlich einerseits ihre Sensibilität für den Ausdruck einer bestimmten Zeit und andererseits ihre Beschäftigung mit Aspekten des Lebens aus

einem weiblichen Blickwinkel. Diese Sensibilität für ihre Zeit zeigt sich in dem Gemälde in einer inhaltlichen Affinität zur damaligen „Narben-Kunst“, in der die Wunden der Kulturrevolution verarbeitet und Intellektuelle oder ältere Kader erstmals wieder mit Achtung dargestellt wurden. Formal bestand diese Art der Malerei in einem ländlich gefärbten Realismus, mit dem die Künstler versuchten, das Leben direkt und unverblümt darzustellen. In Luo Mingjuns Bild, das ein älteres Ehepaar von Intellektuellen oder ehemaligen Kadern in einer ruhigen, gemütlichen und häuslichen Wärme ausstrahlenden Atmosphäre darstellt, zeigt die Künstlerin – aus ihrer Sicht als Frau – ein besonderes Interesse am idealen häuslichen Leben und an den Dingen, die direkt mit dem Körper in Verbindung stehen.

Im Jahr 1985 ereignete sich der stürmische Aufbruch einer Kunstbewegung, die von jungen Künstlern in ganz China getragen wurde. Auch Luo Mingjun beteiligte sich an dieser Bewegung und gründete in Changsha, der Provinzhauptstadt von Hunan, gemeinsam mit Studiengefährten die Kunstgruppe „O“ (Zero). Im selben Jahr wurde im Tianxinge-Park in Changsha die erste Ausstellung gezeigt. Luo Mingjuns Beitrag bestand aus einer Assemblage mit dem Titel Selbstbildnis, die ein abstrahiertes Gesicht darstellt, in der ein Paar Schuhe der Künstlerin die Funktion der Augen übernehmen. Auch hier zeigt sich eine starke Auseinandersetzung mit dem Thema der weiblichen Identität. In der chinesischen Kunstwelt, die damals zwar die „Frauenbefreiung“ kannte, von „Feminismus“ jedoch noch keine Vorstellung hatte, war Luo Mingjuns Bewusstsein um die weibliche Identität zweifellos nicht weniger avantgardistisch als die Form des Kunstwerkes selbst. Vermutlich war sich die junge Künstlerin damals selbst nicht bewusst, dass die geschlechtsspezifische Konzeption, die in den beiden frühen Arbeiten bereits zum Ausdruck kommt, für ihre künstlerische Weiterentwicklung ausschlaggebend sein würde.

Im Oktober 1987 heiratete Luo Mingjun François Wagner, den sie auf dem langen Marsch – einem künstlerischen Unternehmen der Kunstgruppe „O“ in Tibet kennen gelernt hatte, und übersiedelte in die Schweiz. Für jene jungen Künstler, die die talentierte junge Frau bewundert und verehrt hatten, war diese Entscheidung zweifellos äusserst bedauerlich. Doch für Luo Mingjun selbst wirkte sich dieses Ereignis entscheidend auf ihre Kunst aus. – Ich selbst habe meine Kommilitonin Luo Mingjun erst über zehn Jahre nach ihrer Ausreise wieder gesehen und dabei erfahren, dass sie sich immer noch unermüdlich ihrer Berufung zur Kunst widmet. – In den Arbeiten seit ihrer Ausreise spiegeln sich ihre Bestrebungen und Mühen des langen Auslandaufenthalts wieder; der „Rote Staub“ im Ausland. Mit diesem existenziellen „Roten Staub“ sind der Druck und die Herausforderung, der Luo Mingjun mit ihrer zweifachen Identität als Chinesin und als Frau der westlichen Kulturszene ausgesetzt war, angesprochen. Die Tatsache, dass Luo Mingjun 1990, im dritten Jahr ihres Aufenthaltes in der Schweiz, die

Ölmalerei aufgab und sich mit Tuschemalerei und Tusche-Installationen zu beschäftigen begann, ist gewiss in enger Verbindung mit dieser Identitätsproblematik zu verstehen. Denn in der chinesischen Tuschemalerei liegt tatsächlich ein doppelter Bedeutungsgehalt sowohl des Fernöstlichen wie auch des Femininen. Ich bin der Meinung, dass Luo Mingjun während ihrer über zehn Jahre langen Auseinandersetzung mit der Tuschemalerei bereits erfolgreich eine Art persönliche „dritte Dimension“ geschaffen hat, eine besondere kulturelle Dimension, in der unterschiedliche Kulturen und unterschiedliche Identitäten sich überschneiden und Raum finden. Deshalb bin ich der Meinung, dass der „Rote Staub“ auf Luo Mingjuns Lebensweg und künstlerischer Entwicklung die eigentliche Grundlage für die Installation Verwehter Staub darstellt. Indem Luo Mingjun dieser Grundlage immer wieder nachspürt und damit zur Komplexität der Existenz selbst zurückfindet, erhält der „Rote Staub“ ihrer Kunst einen tieferen und universalen Wert, der den persönlichen Bezug weit übersteigt.

Wie bereits erwähnt, symbolisiert der „Staub“ im buddhistischen Verständnis die Mühsal des menschlichen Lebens, und in diesem Sinne steht der Begriff für etwas, das verneint werden sollte. Die Diskussion um das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein von „Staub“ manifestiert sich in den berühmten Gedichten von zwei Adepten des chinesischen Zen-Buddhismus, Shenxiu (ca. 605 – 706) und Huineng (638 – 713). Shenxiu äusserte seine Position, indem er den Körper des Menschen mit dem Bodhi-Baum und den Geist mit einem aufgestellten Spiegel verglich, den man ständig reinigen müsse, um ihn von Staub freizuhalten. Huineng antwortete mit den Versen: „Im Grunde ist Bodhi nicht ein Baum, noch steht ein Spiegel aufgestellt. Da gar nichts ist von Anbeginn, wo sollte Staub anhaften?“

Wenn wir das Titelwort „Staub“ in Luo Mingjuns Ausstellung unter solchen Aspekten betrachten, eröffnen sich unterschiedliche Sichtweisen. Ich bin der Meinung, dass für Luo Mingjun der Begriff Staub nicht allein für die Mühsale des irdischen Lebenswegs steht, sondern gleichzeitig auch ihre Liebe zum Leben und ihre Faszination für die Kunst zum Ausdruck bringt.

Beijing, 31. März 2008